Vancouver 2010 — Spiele auf gestohlenem Land
Motive und Hintergründe der Olympia-Proteste in Kanada
von Daniel Palloks
Nach wie vor sind die Kampagnen gegen die Sommerspiele von Beijing 2008 und die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, gut im Gedächtnis. Seit mehreren Jahren laufen ähnliche Protestaktionen auch gegen die diesjährigen Winterspiele von Vancouver und Whistler, vor allem seitens der kanadischen Ureinwohner. Der Protest richtet sich nicht nur gegen explodierende Kosten, Immobilienspekulationen und Einschränkung von Grundrechten. Thematisiert werden insbesondere auch die sozialen Folgen für die ärmsten, oft indigenen Bevölkerungsschichten, die fortschreitende Legitimierung von Landraub und die Inkaufnahme von Umweltschäden auf indigenem Territorium bei der Abwicklung des Milliarden-Geschäfts, das unter dem Namen Olympia daherkommt. Diese – im Gegensatz zu früher weitaus direkter gegen die Veranstaltung selbst gerichteten – Proteste und ihre Hintergründe wurden bisher international kaum wahrgenommen.
The Olympics are not about the human spirit and have little to do with athletic excellence. They are a multi-billion dollar industry backed by real estate, construction, hotel, tourism and media corporations (…) critical resistance is needed to expose deceptions about the Games’ impact and purposes
– Olympic Resistance Network
Als sich die US-Journalistin und Autorin Amy Goodman am 25. November letzten Jahres mit ihrem Team von Seattle aus auf den Weg nach Vancouver machte, um dort ihr neues Buch vorzustellen, ahnte sie nicht, dass sie auf der kanadischen Seite der Grenze für anderthalb Stunden festgehalten und verhört werden würde. Im Laufe der Befragung sollte sich herausstellen, dass man sich sehr genau für den Inhalt ihres geplanten Vortrags interessierte und dabei vor allem wissen wollte, ob sie auch vorhabe, zum Thema Olympia zu sprechen. Obgleich Goodman dies verneinte, durchsuchte man Aufzeichnungen und Computer nach Indizien dafür. Sie wurde fotografiert und erhielt die Auflage, Kanada innerhalb von zwei Tagen wieder zu verlassen. Die Journalistin wertete den Vorfall als "eklatanten Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit". Doch ist dies nur der prominenteste einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle, von denen Aktivisten seit Anfang letzten Jahres berichten, und auch innerhalb Kanadas stehen Olympiakritiker unter Beobachtung.
Die Nervosität von Kanadas Behörden ist symptomatisch dafür, wie der Staat versucht, ein ungetrübtes Image von intakter Natur, glücklichen Ureinwohnern und freundlichen "Mounties" aufrechtzuerhalten, das in letzter Zeit vor allem im ökologischen Bereich einige dunkle Flecken erhalten hat (lesenswert: "Der kanadische Ölsand-Komplex"). Doch die ohnehin agile Protestbewegung gegen Olympia hat in Kanada in den vergangenen Monaten noch einmal an Fahrt gewonnen und greift genau dieses Image an. Ausgehend vor allem von den indianischen Ureinwohnern, den First Nations, kam es zu Protesten, Blockaden und Störaktionen im ganzen Land, vor allem während des Olympischen Fackellaufs. Alle großen Städte waren damit konfrontiert, Widerstand gab es auch in Reservaten. Einige Abschnitte des Fackellaufs mussten deswegen verlegt oder sogar gestrichen werden. Einzelne Aktionen fanden außerhalb Kanadas statt, etwa in der künftigen Olympiastadt London.
Bürgerrechte müssen hinter Sponsoreninteressen zurückstehen
Mehr als 6 Milliarden Kanadische Dollar (4 Mrd. Euro) könnten die Spiele in Vancouver insgesamt kosten, schätzen nicht nur die Kritiker. Allein fast eine Milliarde wird für Sicherheit aufgewendet, wovon die Hälfte an die Polizeikräfte der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) geht und ein weiteres Viertel an das Militär, den Geheimdienst CSIS und die Luftraumüberwachung. Das gigantische Budget lässt natürlich auch Raum für ein Potpourri von Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen, wie es mittlerweile bei solchen Veranstaltungen üblich ist. Erwähnt sei hier nur die Installation von fast 1000 neuen Überwachungskameras an den Austragungsorten und im Innenstadtbereich. Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen Zweifel aufkommen, ob die Kameras nach dem Spektakel wieder abmontiert werden.
Die größte Bedrohung für die Spiele sehen die Organisatoren indes offenbar in den Kritikern und Protestgruppen, aber auch in den Konkurrenten der offiziellen Olympia-Sponsoren. Das Organisationskomitee VANOC rechnet immerhin mit etwa einer Milliarde Dollar an Sponsorengeldern von in- und ausländischen Firmen, was etwa 60 Prozent des offiziell kalkulierten operativen Budgets ausmacht.
Im Juli vergangenen Jahres verabschiedete der Stadtrat von Vancouver ein ganzes Bündel von Verordnungen für die Zeit der Spiele, die nach Ansicht von Aktivisten und auch Lokalpolitikern mit deutlichen Einschränkungen der Bürgerrechte verbunden sind. Sie stellen der Stadtverwaltung außerdem eine Blankovollmacht zum eigenmächtigen Erlassen weiterer Verordnungen "nach Bedarf" aus. Einige der Verordnungen verbieten das Verteilen von Schriften, Flugblättern und Werbematerial sowie das Anbringen von Plakaten, auch solcher mit rein kommerziellen Inhalten, innerhalb bestimmter designierter Zonen in der Stadt und in der Nähe der Austragungsorte. Außerdem gestattet ein kürzlich verabschiedeter Zusatz zu einem Provinzgesetz den Ordnungshütern in den olympischen Austragungsorten, auch ungefragt auf Grundstücke und in Wohnungen einzudringen, um "Verordnungen in Bezug auf Schilder und Graffiti durchzusetzen", insbesondere was deren "Entfernung, Abdeckung oder Veränderung" angeht. Razzia und Zensur und dürften vor allem unerwünschte und kritische Meinungsäußerungen betreffen, die so aus dem Stadtbild verbannt werden sollen. Zudem können dabei drakonische Geldbußen bis zu 10.000 Dollar und Haftstrafen bis zu 6 Monaten verhängt werden. Solche Maßnahmen sollen nicht nur für "Schutz und Sicherheit" sowie ein sauberes Stadtbild sorgen, sondern die Verordnungen von Vancouver wollen damit ausdrücklich auch die "kommerziellen Rechte" der Sponsoren gewahrt wissen. Eine solche Bevorzugung kommerzieller Interessen gegenüber Grundrechten wie der Meinungsfreiheit stößt vielerorts auf Kritik. Und welcherart kommerzielle Interessen mit all dem unter anderem geschützt werden, zeigt exemplarisch die mittlerweile aufgeflogene Praxis der offiziellen Vermarktung "authentischer indianischer Kunst", die man in Wahrheit billig in China produzieren lässt.
Auf Zensurbestrebungen trifft man auch in den Verträgen, die VANOC mit den auftretenden Künstlern und Musikern abgeschlossen hat. Ihnen wird darin – wohl erstmalig in der Geschichte der Olympischen Bewegung – untersagt, sich negativ oder abfällig in Bezug auf VANOC, die Spiele, die Olympische Bewegung oder deren Sponsoren zu äußern. "Reden wir hier von Iran? Myanmar? Somalia?" fragte man sich in der Tageszeitung Edmonton Journal in einem Bericht dazu.
The artist shall at all times refrain from making any negative or derogatory remarks respecting VANOC(the organizing committee), the 2010 Olympic and Paralympic Games, the Olympic movement generally, Bell and/or other sponsors associated with VANOC.
– Vertragsklausel für teilnehmende Künstler (zit. in Edmonton Journal, 27.11.2009)
Nicht weniger schwerwiegend ist, dass nach Aussage der British Columbia Civil Liberties Association (BCCLA) Protestgruppen möglicherweise gezielt durch Undercover-Agenten der Polizei unterwandert, gesteuert und politisch beeinflusst werden sollen. Die Integrated Security Unit (ISU), die spezielle Polizeieinheit für die Olympischen Spiele, weigerte sich jedenfalls bisher, Gegenteiliges zuzusichern und versprach lediglich, dass ihre Agenten "andere nicht zu Gewaltausübung provozieren werden".
Spiele auf gestohlenem Land
Die Protestbewegung gegen die Olympischen Spiele geht hauptsächlich von der indianischen Bevölkerung im heutigen Kanada, den First Nations, aus, umfasst aber auch Umwelt- und Menschenrechtsgruppen, Obdachloseninitiativen und andere – wobei die Abgrenzung nicht immer klar ist, da sich die Anliegen der Fraktionen auch überschneiden. Aus indigener Perspektive sind die Proteste kein losgelöstes, für sich selbst stehendes Ereignis, sondern müssen vor dem Hintergrund einer historischen Kontinuität gesehen werden, die im Ergebnis für die Mehrheit der Ureinwohner tagtäglich reale und existentielle Auswirkungen hat. Dieser Bogen spannt sich von den Anfängen der Kolonisierung und Ausbeutung des Landes im 18. Jahrhundert über die illegale Landnahme, Vertreibung und physische Dezimierung durch Krankheiten, Hunger und Gewalt, die Diskriminierung durch die Indianergesetze von 1876 (Indian Act), den systematischen und mindestens kulturellen Genozid, der in den berüchtigten Residential Schools stattfand, welche noch bis 1996 existierten, und der mindestens 50.000 indianische Kinder das Leben kostete (der Rest wurde "kulturell umerzogen"), bis schließlich in die Gegenwart, wo der neu erwachte Hunger auf Ressourcen wiederum zu Lasten der Ureinwohner, ihrer Lebensweise und ihrer körperlichen Unversehrtheit, gestillt wird.
Letztlich geht es dabei immer um die Frage von Land und Ressourcen. Dabei steht das importierte Konzept von Landeigentum gegen die traditionelle Sichtweise, dass das Land eine gemeinsam nutzbare Lebensgrundlage sei. Da Kanadas Oberstes Gericht im Jahre 1997 die historischen Ansprüche der First Nations auf ihr Territorium und das Recht auf dessen traditionelle Nutzung zwar anerkannt hat, daraus aber keine konkrete Rechtssprechung (unter kanadischem Recht, wohlgemerkt) ableitete, sondern nur eine generelle Konsultationspflicht vorschrieb, hält der Konflikt um sogenannte nicht abgetretene Territorien (engl.: unceded territories) unvermindert an bzw. verschärft sich sogar. Somit lautet auch ein zentrales und übergreifendes Motto der Olympia-Proteste "No Olympics on Stolen Native Land!", keine Spiele auf geraubtem indigenen Land.
Ich hätte sehr gern ‘unpolitische’ Spiele. Aber die Spiele finden auf einem Land statt, das den First Nations gestohlen wurde. (…) Es gibt in British Columbia kaum Landverträge (mit Ureinwohnern – Anm. d. A.); es handelt sich also bei diesen Austragungsorten um nicht abgetretene Territorien.
– Dan Kellar von "Resist 2010", während einer Blockade der "Spirit Train"-Werbetour 2008 (Quelle: Real News Network)
Douglas Treaties Areas auf Vancouver Island, die einzigen abgetretenen Territorien in British Columbia (gelb); olympische Austragungsorte (rot).
Grafik basierend auf OpenStreetMap. Lizenz: CC-BY-SA 2.0
In der Provinz British Columbia sind weniger als 0,1 Prozent der Fläche, nämlich nur knapp 930 Quadratkilometer, über Landverträge legal von den First Nations an die weißen Kolonisten abgetreten worden (die 14 Douglas Treaties der Hudson Bay Company, 1850-1854). Das betrifft ausschließlich Gebiete auf Vancouver Island, der zwischen Vancouver und dem Pazifik gelegen großen Insel, und summiert sich auf etwa ein Vierzigstel der Inselfläche. Bezahlt wurde das Land damals vorwiegend mit Decken, Kleidung und lächerlichen Bargeldbeträgen sowie mit Jagd- und Fischrechten in Gebieten, die nicht von den Verträgen erfasst wurden. Bei dem überwiegenden Rest von 99,9 Prozent des Landes an der kanadischen Westküste handelt es sich um nicht abgetretene Territorien. Darunter fallen insbesondere das Stadtgebiet und Umland von Vancouver (im Territorium der Küsten-Salish Nationen) und die Region um Whistler, ein beliebtes Skigebiet etwa 100 Kilometer nördlich von Vancouver (an der Grenze zu den Binnen-Salish-Gebieten), und mithin sämtliche Austragungsorte der Olympischen Spiele.
Ökologisch nachteilig, finanziell waghalsig
Bereits vor etwa zehn Jahren starteten First-Nation-Initiativen erste Kampagnen gegen die Ausrichtung von Spielen auf indigenem Land, später auch zunehmend gegen die ökologischen Schäden infolge der umfangreichen olympischen und touristischen Bau- und Infrastrukturprojekte. Zu diesen zählte zum Beispiel der 300 Millionen Dollar teure Ausbau des Sun Peaks Ski-Ressorts und der Straße von Sun Peaks nach Vancouver, die ebenfalls durch First-Nation-Territorium verläuft, dem der Secwepemc. Ein weiteres umstrittenes Großprojekt war die Erweiterung und Neuführung des Highway 99 (Sea-to-Sky Highway) in den Eagleridge Bluffs, einem Gebiet, das der Squamish-Nation heilig und zudem ein sensibles aber noch intaktes Ökosystem ist, in dem unter anderem Weißkopfseeadler brüten. Der Sea-to-Sky ist die einzige direkte Überlandverbindung zwischen den Austragungsorten Vancouver und Whistler. Für den 775 Millionen Dollar teuren Straßenausbau mussten fast zweieinhalb Millionen Kubikmeter Material abgetragen und Teile der Hügel weggesprengt werden. Der Ausbau soll nicht nur dem erhöhten Publikumsverkehr Rechnung tragen. Er schaffte auch Transportwege für Baustoffe, zum Beispiel die großen Mengen von Kies, die zur Betonherstellung benötigt und zum Teil aus unberührten Landschaften herbeigeschafft wurden, wo der exzessive Kiesabbau die Fischpopulationen bedroht. Dies betrifft ebenfalls indigenes Territorium. Gegner des Eagleridge-Projektes forderten – davon abgesehen – eine nur unwesentlich teurere, dafür ökologisch und betriebstechnisch nachhaltige Tunnel-Unterführung durch die Hügel. Doch dies wurde abgelehnt und die Proteste vor Ort mittels Polizeieinsatz aufgelöst, wobei es zu Festnahmen kam. Eine wegen der Proteste inhaftierte 70jährige Aktivistin und Stammesälteste der Squamish starb kurz nach ihrer Haftentlassung an einer Lungenentzündung, die sie sich im Gefängnis zugezogen hatte.
Mehrere weitere, ähnlich gelagerte Großprojekte in British Columbia seit 2003 (oft sogar ohne direkten Zusammenhang mit den Spielen, aber nach dem Muster der Olympia-Projekte bewilligt und durchgeführt), das Abholzen von geschätzten 100.000 Bäumen sowie auch die Art und Weise der Finanzierung des Olympischen Dorfes in Vancouver, in der Presse als "Eine-Milliarde-Dollar-Immobilienzocke" bezeichnet, stießen ebenfalls zunehmend auf Kritik. Die seit der Finanzkrise in Verruf geratene Praxis, wonach die Öffentlichkeit die finanziellen Risiken privater Investitionen in großangelegte Bauprojekte trägt, hat den Spielen auch bereits den Namen "Bailout Games" eingebracht. Mittlerweile wird nicht nur von den Protestbewegungen auf die Gefahr hingewiesen, Vancouver könnte sich mit all dem auf Jahre überschulden und finanziell handlungsunfähig werden.
Sozialkürzungen, Drogenprobleme und Obdachlosigkeit
Der Geldmangel würde sich unweigerlich auch in den Sozialausgaben niederschlagen. Davon betroffen wären nicht nur der soziale Wohnungsbau oder Programme gegen Obdachlosigkeit. Vor kurzem wurde bekannt, dass British Columbia aufgrund von Geldmangel wohl 14 Schulen schließen wird. In Vancouver werden bis zu 800 Lehrer ihren Job verlieren. Außerdem will man hunderte Krankenschwestern und Angestellte entlassen. Treffen könnte es auch Projekte wie "Four Pillars", einen kombinierten Ansatz zur Eindämmung des in den letzten Jahren sprunghaft gestiegenen Drogenkonsums in Vancouver und an der kanadischen Westküste. Dort boomen vor allem Designerdrogen wie Ecstasy oder Methamphetamin (Crystal Meth), deren Ausgangsstoffe weitgehend unreglementiert aus den USA eingeführt werden können und mit deren Herstellung und Verkauf sich bei relativ geringem Einsatz in kurzer Zeit schwindelerregende Gewinne erzielen lassen. Bereits seit einiger Zeit hat British Columbia ein Problem mit über hundert immer besser ausgerüsteten und bewaffneten und gleichzeitig immer professioneller organisierten Drogen-Gangs.
Auch in anderen Bereichen machen sich die bekannten Auswirkungen von Immobilienspekulation, öffentlicher Verschuldung und korporativen Interessen bemerkbar. So beklagt man vor allem in der Downtown Eastside (DTES), Vancouvers ältestem und ärmstem Stadtviertel, eine immer deutlichere Gentrifizierung. Statt der Förderung sozialverträglicher Wohnungen steigen dort die Mieten und Wohnraum wird privatisiert, was viele Bewohner zum Wohnungswechsel zwingt oder gar in die Obdachlosigkeit treibt. Schon 2001 waren 56.000 Haushalte im Großraum Vancouver von dieser Situation bedroht; seitdem aber stiegen die Wohnkosten noch schneller als die übrigen Preise, was die Zahl prekärer Wohnsituationen nicht gerade verringert haben dürfte. Die Olympischen Spiele werden als der Hauptgrund für diese Entwicklungen angesehen. Seit 2003, dem Jahr der Vergabe an Vancouver, sollen um die 800 Wohneinheiten für Niedrigeinkommen in der DTES in Eigentumswohnungen umgewandelt worden sein. Viele der Billighotels, in denen Wohnungslose zuweilen unterkommen, wurden geschlossen. Es wird Platz für Touristen und Investoren geschaffen. Betroffenenverbände befürchten, dass die Nebenwirkungen der Spiele bis zu 2.000 Menschen zusätzlich obdachlos machen könnten. Das wäre eine Verdreifachung gegenüber dem Stand von 2003. Allein von 2005 bis 2008 stieg die Obdachlosenzahl im Großraum Vancouver um 22 Prozent (in Vancouver selbst um 35 Prozent) und gegenüber 2002 um fast 140 Prozent. Finanzieller Spielraum für Maßnahmen zur Eindämmung dieser Probleme wäre also dringend nötig. "2010 Homes, not 2010 Games", ist daher eine zweite zentrale Forderung der Olympia-Proteste.
Schon zur Weltausstellung 1986 hatte Vancouver erfolgreich die Straßen von Obdachlosen "gereinigt", und so ging man auch dieses Mal mit sogenannten "Street Sweeps" frühzeitig gegen Straßenbewohner vor. Es finde eine regelrechte Kriminalisierung der Obdachlosen statt, sagen Olympiakritiker. Verstärkt wurden Strafmandate und Platzverweise erteilt wegen Übernachtungen in öffentlichen Parks, Straßenhandels, Bettelns oder auch wegen falschen Überquerens der Straße. Erwähnenswert sind auch die Versuche der Verwaltung ab Mitte 2008, Obdachlose durch Ausgabe kostenloser One-Way-Tickets zum Verlassen der Stadt zu bewegen. Ende November 2009 wurde der Tod einer Obdachlosen zum Anlass genommen, den "Assistance to Shelter Act" in aller Eile durchs Provinzparlament von British Columbia zu bringen. Das Gesetz erlaubt der Polizei, Obdachlose bei "extremen Wetterbedingungen" notfalls mit Gewalt in Notunterkünfte zu überstellen. Bürgerrechtler und Betroffene befürchten, dass dies dazu genutzt werden kann, während der Spiele die Straßen der Innenstadt "obdachlosenfrei" zu halten. Obwohl dies offiziell vehement bestritten wird, ist selbst aus dem Stadtrat von Vancouver Kritik in dieser Richtung laut geworden.
Die Verschärfung der sozialen Situation trifft wiederum die indigenen Bevölkerungsschichten besonders hart, bei denen Arbeits- und Obdachlosigkeit, Drogensucht und Suizidrate zum Teil um ein Mehrfaches höher sind als in der weißen Bevölkerung. Nach dem "Homeless Count" von 2008 war im Großraum Vancouver jeder dritte Obdachlose indigener Herkunft, bei Frauen und Minderjährigen lag die Quote sogar über 40 Prozent – das ist statistisch mehr als das Fünfzehnfache dessen, was dem demographischen Anteil der indigenen Bevölkerung in British Columbia entspräche.
Gastgeber-Erstnationen
Das Olympia-Projekt ist allerdings innerhalb der indianischen Gemeinschaft auch nicht unumstritten. Vor allem Angehörige privilegierter Eliten wie Stammesräte (Tribal Councils), die von dem Spektakel wirtschaftlich oder politisch zu profitieren hoffen oder tatsächlich profitieren, versuchen das Bild der freundlichen indianischen Gastgeber hochzuhalten, das auch von den Organisatoren gern herausgestellt wird. Die Konflikte wurden zum Beispiel deutlich, als es zu Protesten gegen den Fackellauf durch das Six-Nation-Reservat der Haudenosaunee (Irokesen) in der 4000 km weiter östlich gelegenen Provinz Ontario kam, wo erstmals die Route des Fackellaufs kurzfristig geändert werden musste und nicht, wie vom Tribal Council geplant, durch das ganze Reservat verlief.
Prominentestes Beispiel sind aber die "Vier Gastgebenden Erstnationen" (Four Host First Nations), eine geschäftliche Allianz von vier Salish-Stammesgruppen – den Squamish, Musqueam, Lil’wat und Tsleil-Waututh – die offiziell bei der Ausrichtung der Spiele mitwirken, ihr Territorium zur Verfügung stellen und dazu ein Kooperationsabkommen mit VANOC und der Tourismusbehörde CTC unterzeichnet haben. Sie transportieren vor allem das offizielle Bild der kanadischen Ureinwohner bei den Spielen. Doch ob die Einbeziehung der First Nations tatsächlich ein Fortschritt gegenüber früheren Veranstaltungen ist, oder ob sich IOC und VANOC mit einem pittoresken Alleinstellungsmerkmal (und Verkaufsargument) dieser Spiele schmücken, darüber scheiden sich die Geister. Vielleicht wollte man sich auch nur mögliche Rechtsstreitigkeiten vom Hals halten. Regierung und Organisatoren haben sich dabei spendabel gezeigt. Die Kooperation soll den vier Stammesgruppen geschätzte 57 Millionen Dollar an "direkten ökonomischen Vorteilen" und zumindest zeitweilig auch bitter nötige Arbeitsplätze bescheren. Doch die Kommerzialisierung ist nicht unumstritten. So wird die kulturelle Selbstdarstellung während der Spiele von vielen als unangenehme Zirkus-Show empfunden und verachtet, weil sie ein verklärtes Bild von der gegenwärtigen Lebenssituation der First Nations erzeugt und ausbeutet. Den Four-Host-Repräsentanten wird aus den Reihen der indigenen Protestbewegung außerdem vorgeworfen, die Communities gar nicht oder nur formal konsultiert zu haben und in einem elitären politischen Eigeninteresse zu handeln.
(Four Host First Nations Society) are claiming to represent the entire people, but its Chief is making the entire decisions. (…) What I would like to call them is the ‘Four Host Nations Corporation’ because it basically is a legitimizing body for VANOC, for the IOC, for the entire Olympic Movement to claim that there is some sort of representative voice for the indigenous people from these lands where the Olympics will be held. They are not representing the people. They are representing the ideology that making money is far more important than standing up for the people and fighting for their land.
– Angela Sterritt, Angehörige der Gitxsan-Nation und der Native 2010 Resistance Campaign. (Quelle: RealNews Network)
Selbst unter den Befürwortern der Kooperation und den Repräsentanten der Four Host First Nations wird nicht in Abrede gestellt, dass die Spiele auf gestohlenem Land stattfinden und dass die olympischen Bau- und Infrastrukturprojekte massiv in indigenes Territorium eingreifen. Allerdings erhofft man sich über den pragmatischen Ansatz der Kooperation ein besseres Mitspracherecht und mehr Einflussmöglichkeiten, auch bei zukünftigen Entscheidungen.
My community has been impacted for the last one hundred years, never mind what the Olympics are going to to. In our traditional territory, which includes Vancouver, our hunting and fishing has already been impacted by their urban sprawl. (…) In our case, we talked about it in Council and then in a general meeting and people just said that that’s what they wanted to do. We didn’t have any formal referendum. We think that by participating in the 2010 Olympics, that’s the road that will get us to having a voice, having a say in our traditional territory.
– Chief Leah George-Wilson, Repräsentantin der Tsleil-Waututh Nation in der Four Host First Nations Society. (Quelle: RealNews Network)
Das könnte sich als Trugschluss erweisen, denn eine Konsultationspflicht und damit ein "Mitspracherecht" der Ureinwohner besteht ja bereits seit der Gerichtsentscheidung von 1997. Ein weiteres Kooperationsabkommen wäre dafür eigentlich nicht erforderlich. Somit ist zu bezweifeln, ob ein eingeräumtes oder erweitertes Mitspracherecht die Zeit der Spiele tatsächlich überdauern wird. Wahrscheinlicher ist, dass hier aus der Not eine vermeintliche Tugend gemacht wurde, indem die betroffenen Nationen ihre Zustimmung zur Ausrichtung der Spiele auf ihrem Territorium gaben, was ohnehin nicht zu verhindern war.
Highway of Tears
Vielleicht erhofft man sich von der Kooperation aber auch mehr Aufmerksamkeit und Gleichbehandlung, wenn es um andere drängende Probleme geht, wie bei der Aufklärung von Verbrechen. Obwohl Kanada insgesamt eine relativ niedrige Kriminalitätsrate aufweist und diese sogar (mit Ausnahme der Drogendelikte) in den letzten Jahren weiter gesunken ist, können sich nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen sicher fühlen. Immer wieder verschwinden zum Beispiel Frauen und Mädchen in Kanada; in den allermeisten Fällen sind dies Indianerinnen. Viele der Frauen werden irgendwann ermordet aufgefunden, andere bleiben vermisst. Über 500 Fälle seit Mitte der 80er Jahre nannte eine Studie von Amnesty International aus dem Jahr 2004. Die Native Women’s Association of Canada (NWAC) dokumentierte bis Mitte 2009 mehr als 520 Fälle (Studie als PDF), davon die Hälfte allein in den letzten zehn Jahren. Die Dunkelziffer ist möglicherweise noch höher, da oft keine Vermisstenanzeige aufgegeben wird. Polizei und Justiz zeigen oft wenig Interesse an der Aufklärung, insbesondere wenn die Opfer Indianerinnen sind. Noch im September 2009 sprach Amnesty von "schockierendem Versagen" der kanadischen Regierung, eine Antwort auf das Problem zu finden. Anfang Januar 2010 kam es während des olympischen Fackellaufs zu einer Demonstration mehrerer First Nations in der Provinz Manitoba, um diese "nationale Schande" ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.
British Columbia führt die traurige Liste vermisster und ermordeter Frauen mit großem Abstand an. Hier verschwinden besonders viele Frauen entlang des Highway 16 (Yellowhead Highway), der etwa 400 km nördlich von Vancouver Island an der Pazifikküste beginnt und ostwärts durch vier kanadische Provinzen verläuft. Die Website der "Aktionsgruppe Indianer und Menschenrechte" listet fast 100 Frauen auf, die in British Columbia entlang dieses berüchtigten "Highway of Tears" bis 2005 verschwunden sind oder ermordet wurden. Mehr als drei Viertel der Fälle wurden nicht aufgeklärt. Laut NWAC-Studie sind seitdem noch einmal fast vierzig hinzugekommen. Dabei besteht möglicherweise auch ein Zusammenhang mit dem Problem von Menschen- und speziell auch Kinderhandel, vorwiegend mit Indigenen, an Kanadas Westküste. Vancouver gilt als Drehscheibe des Menschenhandels, vorwiegend für die Prostitution, im Pazifischen Raum. Insbesondere der Handel mit indigenen Frauen (aus Kanada) und Asiatinnen (aus Übersee) hat eine lange Tradition. Dieses unterscheidet Kanada von den meisten anderen Industrieländern, wo Menschenhandel in der Regel nur in eine Richtung abläuft: nämlich von außen ins Land hinein. Menschen- und Drogenhandel, Prostitution und die damit verbundenen kriminellen Strukturen erleben erfahrungsgemäß eine Hochkonjunktur, wenn Großereignisse wie Olympia mit viel internationalem Publikum ins Haus stehen. Besonders schlimm wird es, wenn aus den Reihen derjenigen, die für die Einhaltung der Gesetze und den Schutz der Bürger zuständig wären, einige selbst in solche Geschäfte verwickelt sein sollten.
Wir dürfen diese Athleten nicht in dem Glauben nach Hause zurückkehren lassen, dass Kanada eine Bastion der Menschenrechte ist. Wir als Ureinwohner sind keine Terroristen. Es gibt keine Liste von über 500 weißen Frauen, die von indianischen Männern ermordet worden wären; es gibt jedoch eine Liste von über 500 indianischen Frauen, und die meisten von ihnen wurden von weißen Männern ermordet. In Vancouver, der Heimstatt der Olympischen Spiele, wurden von einem einzigen weißen Mann 49 Frauen getötet, ermordet, terrorisiert und ihre Leichen geschändet. Die Polizei nahm diese Morde nicht ernst genug, weil die Opfer – zum größten Teil indigene Frauen – als der Bodensatz der Gesellschaft angesehen wurden.
– Chief Terrance Nelson, Roseau River Anishinabe First Nation (Quelle: Winnipeg Free Press)
Deshalb werden solche generellen Missstände im Rahmen der Olympia-Proteste ebenfalls thematisiert, und natürlich besteht dabei die Hoffnung, eine breitere Aufmerksamkeit, auch international, zu erreichen. Wie zum Beispiel für die fehlende juristische Aufarbeitung der Verbrechen in den Residential Schools, wo die Verantwortlichen aus den Reihen der Kirchen bis heute unbehelligt geblieben sind. Doch es sieht so aus, als ob die Belange der indigenen Bevölkerung wieder einmal übergangen und vergessen werden: diesmal von der internationalen Öffentlichkeit, die ihre Situation nicht zur Kenntnis nimmt und ihre Proteste ignoriert oder bagatellisiert. Paradoxerweise wird das auch gerade dadurch befördert, dass Teile der indigenen Kultur, Bevölkerung und Folklore in das Geschäft miteinbezogen wurden. Auf diesen engen Fokus konzentriert sich das internationale Interesse.
Doch noch immer ist der diskriminierende "Indian Act" (Fassung von 1985) geltendes Recht und macht aus Kanada, zumindest de jure, einen Apartheidsstaat. Noch immer weigert sich Kanada als einer von nur noch drei Staaten weltweit, die UN-Deklaration für die Rechte indigener Völker anzuerkennen und zu unterstützen. Und letztlich dominiert noch immer jenes reingewaschene Image, das nun für die Olympischen Spiele ausgebeutet wird, die äußere Wahrnehmung des Landes.
Es greift daher zu kurz, die Proteste gegen Olympia mit dem gern bemühten Argument abzutun, man verderbe den Athleten den Höhepunkt ihres Sportlerlebens. Denn die dem Olympischen Gedanken verhafteten Athleten werden mit dem Spektakel letztlich ebenso betrogen und als Galionsfiguren für weltweite Milliardengeschäfte benutzt wie die kanadischen Ureinwohner. Doch am Ende fahren die Athleten wieder heim, und die sozial Benachteiligten, ob Ureinwohner oder nicht, bleiben mit den Kollateralschäden und Folgen der Spiele zurück, die sie dann zusätzlich zu ihrer ohnehin schwierigen Situation werden verkraften müssen. Die Protestbewegung will dies zumindest deutlich machen und hat weitere Aktionen angekündigt, auch während der Spiele.
4 Kommentare » Eigenen Kommentar schreiben
1. Flug | 12.02. 2010, 09:39
Wow, das ist wirklich ein beeindruckender Artikel. Aus dieser Sicht habe ich (und viele andere) das noch gar nicht betrachtet.
Ich hoffe trotz alledem, dass Spiele unterhaltsam werden!
2. American Indian | 16.02. 2010, 02:44
Daniel,
Incredible Reporting! Thank you for actually performing real journalism and real research, and informing…for real…..what the real situation is really about in Vancouver/B.C./Canada. Your writing and reporting is diligent, informative, impressive, and respectful.
The human rights record of Canada is a farce! The indigenous rights record is a farce! The maple leaf is a farce. The bounty and the beauty is a farce!
The global community should know about these conditions in Canada, and the global community that signed and committed to the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples should actually read the declaration in order to gain a comprehensive understanding of the rights conflicts that occur each and every moment you and I inhale and exhale.
This should incite folks in places such as Germany and Europe to stand up with the Americas’ indigenous peoples and nations, and support their inhernet right to sovereignty and self-determination. A right to life without losing homes, having their women murdered and missing, and stamping on a right of economic viability.
Good for you Daniel for educating all of us!
3. Jennifer | 28.08. 2010, 13:25
Hallo,
ich schreibe über dieses Thema eine Seminararbeit und brauche eine Karte, auf denen die traditionellen Gebiete der FHFN eingezeichnet sind.
Aber ich finde keine. Kann bitte, bitte jemand einen Link posten?
4. daniel | 30.08. 2010, 03:36
Hallo Jennifer,
eine Karte der First Nations im Raum BC findet sich z.B. hier:
http://www.bced.gov.bc.ca/abed/images/map2.jpg.
Eingezeichnet sind grau die Lil’wat-Gebiete (Lillooet/Stl’atl’imc), in denen u.a. Whistler liegt, und gelb die Gebiete der Coast Salish Nations, zu denen die Squamish, Musqueam und Tsleil-Wautuuth gehören. Die Squamish-Territorien liegen eher nördlich von Vancouver, die der Musqueam größtenteils im 15km-Radius um Vancouver. Die Tsleil-Wautuuth (Burrard) leben heute im Bereich von Burrard Inlet; ihr traditionelles Gebiet liegt im bzw. überschneidet sich mit dem südöstlichen Teil des Squamish-Territoriums.
Mehr dazu (auch Links und Karten) findet man z.B. auf den entspr. Wikipedia-Seiten (deutsch bzw. englisch). Ob es tatsächlich genau bezeichnete Karten der Gebiete gibt, weiß ich nicht. Dazu müßte man bei Bedarf die betreffenden FN kontaktieren. Wahrscheinlich gab es auch nicht überall genau festgelegte Grenzen bzw. diese waren mitunter variabel oder fließend. Im Fall von Stammesgruppen/-verbänden oder bei Allianzen konnten die beteiligten Stämme z.B. oft das gesamte Territorium des Verbunds oder bestimmte Teile davon nutzen.
Ich hoffe, das hilft etwas weiter.
Daniel
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